Kongress zum Ursprung des Rechts
            Die Krise unserer Zeit ist auch eine Krise des Rechts – eine gute Gelegenheit, über die Entstehung dieser für die Zivilisation so zentralen Institution nachzudenken. Das tat ein internationaler Kongress an der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät der UZH vom 17. bis 20. August unter dem Titel: «The Beginnigs of Law. Cross-Cultural Approaches to Legal History in Pre-Roman Times»
Die Rede ist von den Kulturen des Alten Orients, von Mesopotamien, Persien, Anatolien, Israel und Ägypten. Aus all diesen Gebieten haben wir Rechtsquellen. Die Schwierigkeit, diese zu verstehen, ist zuerst einmal methodischer Natur: Was wir modern mit Gesetz bzw. Recht bezeichnen, gab es im Alten Orient so nicht. Gesetze sind eingebettet in Vorstellungen einer kosmischen Ordnung, in einer Weltsicht. Kultische Gesetze spielen eine grosse Rolle, auch ist die Gesetzgebung mit dem Königtum verbunden und legitimiert dieses. Angemessen ist für das Verstehen dieser Rechtskulturen ein anthropologischer Ansatz, der Recht als soziale Praxis begreift.
Mit der entsprechenden Methodologie lässt sich die vorrömische Rechtsgeschichte durch genaue Analyse der Quellen rekonstruieren. Die beiden Münsteraner Forscherinnen Kristin Kleber und Anna Kirchhelfer-Lauber haben metaphorische Aussagen wie «mit der Freude seines Herzens» isolieren können, die sich nur in Rechtstexten finden. Das legt den Schluss nahe, dass es sich um termini technici handelt. Durch eine solche Rekonstruktion kommt eine erstaunlich differenzierte Rechtskultur an den Tag, die zu Abstraktionen fähig ist und die vor allem eine Emphase auf Gerechtigkeit kennt. Denn Gerechtigkeit walten zu lassen ist die Pflicht des Herrschers, gerade auch für die Armen, Witwen und Waisen, die sich nicht selbst Recht verschaffen können. Die im Alten Testament wiederkehrende Mahnung, Witwen, Waisen und auch Fremde gut zu behandeln, nimmt bis in die Formulierung hinein altorientalische Vorlagen auf.
Bei der Fülle und Qualität des Materials, das während des Kongresses präsentiert wurde, ist es nicht mehr haltbar, die westliche Rechtsgeschichte mit Rom beginnen zu lassen. Tatsächlich existierten viele Hochkulturen seit langem, als Rom gegründet wurde, sodass das römische Recht nicht voraussetzungslos entstand. Es ist also nur zu hoffen, dass die Erträge der Altorientalistik auch in den juristischen Fakultäten rezipiert werden.
Trotz aller offenen Fragen förderte der Kongress eine Erkenntnis klar zutage: Es gibt eine Rechtsgeschichte des Antiken Orients, die mit der Emphase auf Gerechtigkeit ein eignes Gepräge kennt und unsere westliche Rechtsgeschichte begründet hat. Diese Tradition wirkte auf das Alte Israel, auf Griechenland und auf Rom. Wenn es stimmt, dass der Westen aus einer «Begegnung von Athen, Jerusalem und Rom» (Jürgen Habermas) hervorgeht, dann steht Jerusalem nicht nur für Monotheismus – es steht auch für einen Rechtsbegriff, der von Gerechtigkeit nicht zu trennen ist. Und dieser Rechtsbegriff wiederum ist nicht zuletzt ein Resultat der Rezeption altorientalischer Rechtskulturen.
Francesco Papagni