Religion als Start-up?
Religiöse Entrepreneur:innen zwischen Glaube und Marktwirtschaft
Glaube und religiöse Praxis finden nicht in luftleerem Raum statt, sondern sind verflochten mit gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Mit Blick auf den Islam reagieren religiöse Entrepreneur:innen auf neue (und alte) Bedürfnisse von Muslim:innen. Sie schaffen innovative Angebote und gestalten den Islam und muslimische Lebenswelten in Europa somit aktiv mit. Der Spagat zwischen religiösen und marktwirtschaftlichen Ansprüchen ist dabei nicht immer ganz einfach.
Von Dominik Müller
Artikel aus dem Magazin facultativ 2025
«Die beste Version deiner selbst!» Mit diesem Slogan wirbt der tatarische Gelehrte Shamil Alyautdinov für seine russischsprachigen Online- und Offline-Seminare im Rahmen des von ihm initiierten «Trillionaire Project». Einst vor allem als Imam einer Moskauer Moschee bekannt, hat sich Alyautdinov mit dem Start dieses Projekts ein zweites Standbein aufgebaut und sich als muslimischer Coach und Buchautor einen Namen gemacht. In seinen Seminaren verbindet er nach eigenen Angaben islamische Ethik mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Psychologie, Soziologie und Ökonomie, um den Teilnehmenden zu mehr Erfolg, Wohlstand und Erfüllung in spiritueller wie weltlicher Hinsicht zu verhelfen.
Dieses Beispiel steht für ein Phänomen, das im Kontext des Islams in Europa (und darüber hinaus) an Bedeutung gewinnt. Immer häufiger treten muslimische Akteur:innen auf, die eigenständig Produkte und Dienstleistungen mit religiösem Bezug entwickeln und anbieten. Die Palette reicht von religiösen Lebenscoachings, Heil- und Exorzismuspraktiken über muslimische Partnervermittlungen bis hin zu religiösem Lifestyle und Unterhaltungsangeboten. Zu Letzteren zählen etwa islamkonforme Mode, Gastronomie und Fitnessangebote, aber auch Halal Rap und muslimische Stand-up-Comedy.
So unterschiedlich diese Angebote auch erscheinen mögen, die dahinterstehenden Akteur:innen weisen dennoch Gemeinsamkeiten auf: Meist agieren sie selbstständig, das heisst ausserhalb etablierter religiöser Räume und Institutionen wie Moscheen oder muslimischen Vereinen, und ihre Angebote entstehen aus Eigeninitiative, häufig motiviert durch wahrgenommene Bedürfnisse im eigenen Umfeld und durch lebensweltliche Fragestellungen. Zugleich tragen diese Akteur:innen die Verantwortung sowie die sozialen und ökonomischen Risiken ihrer Unternehmungen in der Regel allein, da sie jenseits etablierter Institutionen und Netzwerke agieren. Gerade wegen dieser Eigeninitiative, Selbstständigkeit und Risikobereitschaft lassen sie sich analytisch als «religiöse Entrepreneur:innen» fassen, denn sie handeln genau im ursprünglichen Wortsinn des französischen entreprendre: Sie nehmen etwas selbst in die Hand.